Europa ist ein riesiger Absatzmarkt
Warum also auf die andere Seite des Planeten gehen, um neue Märkte zu suchen? Unternehmen im Vereinigten Königreich stehen dem Brexit oft skeptisch gegenüber. Doch es gibt auch Ausnahmen.
Es ist heiß in der Schmiede von MJ Allen, einem Hersteller von Maschinenteilen. Drei Männer in Star Wars-ähnlicher Schutzkleidung gießen geschmolzenes Eisen in Formen. Schritt für Schritt werden die Gussteile in dem Familienunternehmen zu Motoren für Ford-Busse, die ihre Bestimmung auf dem europäischen Festland finden. Der Export läuft derzeit reibungslos, aber wie lange noch? „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie das nach einem harten Brexit laufen wird“, sagt Geschäftsführer Tim Allen, ältester Sohn des Gründers, „allein das Papierchaos an der Grenze und die damit verbundenen Verzögerungen.“
Ungeduldig, besorgt und mit Staunen verfolgt Allen die politischen Entwicklungen. „Beide Seiten bluffen, und wir Unternehmer sitzen zwischen den Fronten“, sagt er in seinem Büro. Er spricht für einen Großteil der britischen und kontinentalen Wirtschaft.
Ein „No Deal“ – ein kompletter Bruch zwischen Insel und Festland – ist die größte Angst. In der Londoner City bereiten sich große Finanzinstitute vor. JP Morgan bereitet Teile seiner Belegschaft bereits auf Umzüge nach Europa vor, und der Goldman-Sachs-Chef flirtet offen mit Frankfurt.
Landwirte, Bistrobesitzer und Bauunternehmen fürchten Personalmangel durch Einwanderungsbeschränkungen. Schon jetzt hat das britische Gesundheitswesen Schwierigkeiten, Personal zu finden, was auch für die Londoner Tech-Szene gilt. Große Autohersteller warnen ebenfalls. So sagte ein Honda-Manager vor einem Parlamentsausschuss, dass eine Viertelstunde Verzögerung am Zoll jährlich eine Million Euro koste. Dass die britische Wirtschaft seit dem Referendum stabil geblieben ist, gibt Unternehmen Anlass zur Sorge, da es die Hard-Brexit-Befürworter übermütig macht.
Innerhalb der Wirtschaft sind aber auch positive Stimmen zu hören, wie die von Andrew Baxter, Inhaber des Transportunternehmens Europa Worldwide. „Brexit ist auf lange Sicht ein guter Schritt“, meint der Unternehmer, der von seinem neuen Büro aus den langsam fließenden Verkehr über die Themse-Brücke bei Dartford beobachtet. Der Geschäftsmann, dessen Freundin aus Litauen stammt, weist auf den Namen seines Unternehmens hin. „Europa ist schön, genauso schön wie die griechische Göttin, nach der es benannt ist, aber die Europäische Union ist auf einem katastrophalen Weg in einen undemokratischen Superstaat.“
Dass fast achtzig Prozent der Aktivitäten des 500 Mitarbeiter zählenden Unternehmens den Handel zwischen Großbritannien und dem Rest der EU betreffen, schmälert Baxters Begeisterung für den Brexit nicht. „Die Formalitäten an der Grenze werden mehr Zeit in Anspruch nehmen, aber das ist ein kleiner Preis, und die Gebühren tragen die Im- und Exporteure. Brexit kann ein Erfolg werden, wenn wir die Steuern senken und Einfuhrzölle einseitig abschaffen. Singapur sollte unser Vorbild sein“, sagt Baxter, der ein gutes Verhältnis zur Premierministerin Theresa May pflegt.
In Ashford blickt Allen skeptisch, wenn er diese Sichtweise hört. „Europa ist ein riesiger Absatzmarkt und nur eine halbe Stunde Fahrt nach Folkestone entfernt. Warum also auf die andere Seite des Planeten gehen, um neue Märkte zu suchen?“ Weil das Unternehmen mit der Massenproduktion in Indien und China nicht konkurrieren kann, operiert MJ Allen in einer Nische. Es stellt hochwertige Maschinenteile für Krankenhausgeräte, Lastwagen, Marineschiffe, Kirchtürme und U-Boote her – alles aus Eisen, Bronze oder Aluminium.